Zeichen der Zeit
„Auf dem Gebiet vor dem Tempel, soweit es das Auge erfasste, grub man
die Leichname aus und überführte (metephorée) sie in eine andere Gegend
von Delos.” (Herodot)
Die Metapher ist vielleicht das Prinzip der Neuerung schlechthin. Das
Sehen dieses ausgesprochenen bildhaften Bereichs entspringt, nach
Ansicht der alten Griechen, der ingeniösen Tätigkeit. Sowohl bildhafter
Bereich als auch die Tätigkeit des Sehens sind weder rational ableitbar
noch eindeutig festlegbar. Aber die Metapher bringt uns dazu, das Neue
zu sehen.
Wesentlich scheint mir der Umstand, dass die Metapher im non-verbalen
Bereich wirkt und dass sie zu unmittelbarem Sehen führt. Bilder scheinen
die größere Realität zu haben, sie sind dem metaphorischen Denken
näher.
Wilhelm Seibetseders Bilder sind Fundstücke aus fractalen Landschaften.
Materialproben aus immateriellen Territorien. Sie versetzen uns zurück
in die Renaissance und generieren außer acht gelassene Möglichkeiten.
Er bringt uns Bilder aus einer non-verbalen Welt der Farben und der
Haptik, die keine Trennung zwischen dem eigenen Körper und dem Horizont
zulässt. Sie kennen keine Arbeitsteilung zwischen Kunst und
Wissenschaft, zwischen Innenwelt und Außenwelt, zwischen Wahr und
Falsch, zwischen Objekt und Subjekt.
Stellen Sie sich vor, ihr Selbst endete nicht an der Außenhaut, in der
die Berührungsnerven sitzen, sondern es gehe mindestens so weit, wie Ihr
Auge reicht. Dann wären die Bilder in diesem Katalog nicht Außenwelt,
sondern Teil Ihres Selbst, wie alles, was sie eben sehen.
Ich sage Selbst – aber dieses Selbst wäre dann nicht anders beschaffen,
als es Ihnen durch Ihr Driften in unserer Kultur und Sprache gegeben
ist. Sie würden wohl weniger sich selber von außerhalb bei der jeweils
ausgeübten Tätigkeit sehen und eher ganz bei der Sache sein – ich meine,
Sie würden selber Teil der Tätigkeit sein, Sie würden in der jeweiligen
Sache versinken. Ihr Selbst wäre, auch für Sie nicht von dem zu
trennen, was Sie gerade tun.
Wären Sie in einer solchen Bewusstseinslage Betrachter eines Bildes, so
wären Sie wohl Teil dieses Bildes und das Bild wäre ein Teil von Ihnen –
ich meine jetzt nicht im übertragenen Sinne, sondern im adäquatem Sinn
-, so wäre das Bild, alles was Sie sähen, vermutlich viel konkreter,
weil Ihre Sache.
Ästhetik wäre dann wohl die oberste Wissenschaft (wenn es so etwas wie
Wissenschaft überhaupt gäbe) und Phänomenologik käme wohl vor aller
anderen Logik. Ich weiß nicht, ob es das Wort „Ich” überhaupt gäbe, oder
welche Bedeutung „Selbst” hätte und ob es überhaupt einen Unterschied
zum „Du” machte.
Natürlich wären wir nach wie vor Menschen. Aber Sie und ich wären wohl doch eine völlig andere Art Menschen, als wir es jetzt sind. Natürlich hätten wir eine gemeinsame Sprache (was sonst sollte uns denn zu Menschen machen?), aber wie wäre unsere Sprache beschaffen? Sie hätte schließlich ganz andere Bedingungen zu beschreiben – vielleicht würde diese Sprache gar nicht beschreiben, sondern sein, auf Ausdruck käme es schließlich nicht mehr an. Der Vollzug wäre Ndann ja wohl nicht mehr von Beschreibung sinnvoll zu trennen, wie z.B. in der Aussage „Ich habe gemalt”.
(Quelle: Wilhelm Seibetseder Malerei – Galerie Ariadne 1989)
Erich Mandl, Katalog 1989